Im Rahmen der Fachtagung „Exklusive Gesundheit? – Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen“ ging die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Anfang Mai 2012 der Frage nach, welchen Anforderungen das Gesundheitssystem bezogen auf die Bedürfnisse behinderter Menschen entsprechen muss.
Für einen contergangeschädigten Menschen, der seine Zähne zum Öffnen von Flaschen verwendet, ist das Gebiss, das er durch die zwangsläufige Abnutzung der Zähne nach einer Weile benötigt, kein Körperersatzstück, sondern ein Hilfsmittel. Das ist einleuchtend, lässt sich aber mit den bestehenden Regelungen zur Finanzierung so nicht abdecken. Denn das Gesundheitssystem ist nicht am Bedarf der Menschen ausgerichtet, sondern orientiert sich am Bedarf der Leistungserbringer und Kostenträger, kritisierte Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes NRW, gleich zu Beginn der Tagung. Herr Professor Dr. Michael Seidel, ärztlicher Direktor der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, betonte in seinem Eröffnunsgvortrag insbesondere die Notwendigkeit, die Fachkenntnisse über die Versorgung von Menschen mit Behinderungen bei Ärztinnen und Ärzten zu verbessern.
Panel 1: Bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen
Im ersten Panel diskutierten Dr. Christian Peters (AOK Bundesverband), Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust (Bundesvereinigung Lebenshilfe) und Dr. Bernhard Gibis (Kassenärztliche Bundesvereinigung) mit der Grünen Bundestagsabgeordneten Maria Klein-Schmeink über Anreize und Möglichkeiten, wie sich die gesundheitlichen Versorgungsangebote entsprechend den spezifischen Bedürfnissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderungen verbessern lassen.
Ausgangspunkt des Gesprächs bot ein Vorschlag der Fachverbände der Behindertenhilfe zur Gemeindenahen Gesundheitsversorgung von Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung, der eine Verbesserung der Versorgung in der Breite bei großer Vielfalt vorsieht. Es müsse nicht nur gewährleistet werden, dass ambulante Angebote wohnortnah und barrierefrei zur Verfügung stünden, so Frau Nicklas-Faust, die das Konzept der Fachverbände der Behindertenhilfe vorstellte. Ebenso müsse entschieden werden, wie viele Spezialangebote in welcher Häufigkeit nötig sind. Die Verbände schlagen ein Modell der gestuften gesundheitlichen Versorgung vor und fordern für den Bereich der spezialisierten Versorgung analog zu den Sozialpädiatrischen Zentren für behinderte Kinder Medizinische Zentren für erwachsene Menschen mit Behinderung. Spezialisierte Versorgungsangebote dürfen die Leistungserbringer allerdings nicht dazu verleiten, Menschen mit Behinderungen aus der Grundversorgung abzuschieben.
Aus Sicht der Krankenversicherungen, so Herr Peters, sei bei den Leistungserbringern eine mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Menschen mit Behinderungen feststellbar. Um eine bessere Versorgung zu gewährleisten bedürfe es allerdings nicht notwendig der von den Fachverbänden vorgeschlagenen spezialisierten Zentren. Es gebe im SGB V bereits Möglichkeiten zur Einrichtung spezialisierter Angebote, diese würden aber zu zögerlich genutzt. Zur Steigerung der Barrierefreiheit im Gesundheitssystem könne der G-BA bereits jetzt per Beschluss Barrierefreiheit als Zulassungs- und Qualitätskriterium für Leistungserbringer festlegen, so Herr Peters. Die gesetzliche Krankenversicherung selbst habe die Möglichkeit zu Selektivverträgen, in denen Leistungserbringer ausgeschlossen werden, die nicht barrierefrei sind. Demgegenüber sah Herr Gibis die Lösung darin, in Kollektivverträgen Gelder und Honorarzuschläge spezifisch an die Gewährleistung einer besseren Versorgung behinderter Menschen zu binden.
Erstaunlich einig waren sich Kassen- und Ärztevertreter in ihrer Forderung an die Politik: Angesichts der teilweise konträren Interessen in der Selbstverwaltung dauere es mitunter sehr lange, bis die untergesetzliche Ausgestaltung von Vorgaben Gestalt annimmt. Hier sei der Gesetzgeber aufgerufen, für eine Einigung Fristen mit Sanktionsandrohungen vorzugeben, um Verzögerungstaktiken zu verhindern.
Panel 2: Zwischen Teilhabeanspruch und Leistungskatalog: Das Spannungsfeld zwischen Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V) und Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX)
Im Rahmen des zweiten Panels diskutierten Dr. Siiri Ann Doka von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG Selbsthilfe), Dr. Harry Fuchs, unabhängiger Experte für das Recht der Rehabilitation und Teilhabe, und Edelinde Eusterholz vom Verband der Ersatzkassen (vdek) mit Markus Kurth, behindertenpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.
Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen. Das geht unzweideutig aus § 2a SGB V hervor. Wohlfahrtsverbände und Verbände behinderter und chronisch kranker Menschen kritisieren seit langem, dass diese Formel leistungsrechtlich und praktisch kaum Niederschlag findet. Grund sind bestehende Spannungsfelder zwischen SGB V und SGB IX, die zahlreiche Probleme in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen verursachen.
Probleme gebe es, so Frau Doka, unter anderem in der Heil- und Hilfsmittelversorgung. Das liege auch daran, dass kein geeignetes Bedarfsfeststellungsverfahren existiere. Auch Herr Fuchs betonte wie wichtig es sei, hier zügig ein Verfahrung zu schaffen, mit dem eine Teilhabebeeinträchtigung ICF-orientiert und trägerübergreifend verbindlich festgestellt wird. In diesem Zusammenhang müsse auch die trägerübergreifende unabhängige Beratung weiter ausgebaut werden. Zu den Schnittstellenproblemen zwischen SGB V und SGB IX führte Herr Fuchs weiter aus, eine Rechtsbereinigung sei dringend geboten. So müsse in allen Büchern des Sozialgesetzbuchs gestrichen werden, was nicht selbst den Anspruch definiere, so dass nur die Anspruchsgrundlage selbst und damit die Leistungsverpflichtung der Träger dort verbleibe. Nur so könne gewährleistet werden, dass das eigenständige Teilhaberecht, das 2001 mit dem SGB IX geschaffen wurde, auch als übergreifendes Recht von allen Sozialleistungsträgern akzeptiert und praktiziert werde.
Auch Edelinde Eusterholz vom Verband der Ersatzkassen (vdek) sprach sich grundsätzlich dafür aus, Zuständigkeiten gesetzlich klarer zu definieren. Besonders die Schnittstelle zwischen Krankenversicherung und Jugendhilfe bzw. Eingliederungshilfe sei problematisch. So behaupteten die Träger der Eingliederungshilfe, als einzige gute Teilhabepläne machen zu können. Am Ausbau der gemeinsamen Servicestellen hätten sich bisher allerdings nur die Deutsche Rentenversicherung und die gesetzliche Krankenversicherung wirklich beteiligt. Gegenwärtig gebe es auf Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation Bemühungen zur Verbesserung der Servicestellen. Eine weitere Problemlage in der Praxis schilderte Frau Doka im Zusammenhang mit der Einhaltung der Fristen nach §§ 14 und 15 SGB IX.
Panel 3: Barrierefreie Zugänge
Das Thema der Zugänge zur Gesundheitsversorgung diskutierten Ulrike Pohl vom Netzwerk behinderter Frauen und Verona Mau Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung gemeinsam mit Maria Klein-Schmeink, Sprecherin für Patientenrechte der Grünen Bundestagfraktion.
Gemäß den Anforderungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention muss der Zugang zum Gesundheitswesen sowohl baulich als auch kommunikativ barrierefrei sein. Um dies zu gewährleisten, müssten zum einen barrierefreie Praxen in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen und die Kommunikation zwischen Leistungserbringern und Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen problemlos möglich sein. Möglichst viele Beschäftigte im Gesundheitsbereich, vor allem aber Ärztinnen und Ärzte benötigen also den Sachverstand und die entsprechende Ausbildung um mit verschiedensten Beeinträchtigungen umgehen zu können.
Ulrike Pohl vom Netzwerk behinderter Frauen Berlin berichtete gleich zum Einstieg, es gebe zumindest in Berlin seit 10 Jahren keine wesentlichen Veränderungen im Ausbau barrierefreier Praxen. Sie mache immer wieder die Erfahrung, dass sie Ärzten die relevanten Richtlinien erklären müsse. Verona Mau von der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung sieht die Ursache dieses Problems in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten. Diese müssten sich eigentlich fachlich gut auskennen mit den gesundheitlichen Bedarfen von Menschen mit Behinderungen und darüber hinaus auch noch Kenntnisse über die Inhalte des Sozialgesetzbuchs haben. Dadurch seien viele überfordert. In der Ausbildung seien daher Änderungen notwendig, sowohl im Studium als auch in der Facharztausbildung. Hier müsste der Medizinische Fakultätentag entsprechend Änderungen vornehmen.
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