Unvollständig, einseitig, kurzsichtig – Sachverständige bestätigen Kritik am Armuts- und Reichtumsbericht
Schon vor Veröffentlichung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts war klar: Der Bericht sticht als Negativbeispiel aus der Reihe der bisherigen Berichte heraus. Inhalt, Methode und Verfahrensweise der Berichterstellung standen heftig in der Kritik. Zu Recht. Das bestätigte die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, die am 3.6.2013 durchgeführt wurde.
Der Armuts-und Reichtumsbericht (ARB) spiegelt die sozialen Verhältnisse durch seine methodische Neuausrichtung auf das Lebenslagenmodell, durch die unzulängliche Beteiligung von Verbänden und schließlich wegen der Streichung kritischer Passagen aus dem ersten Entwurf nicht angemessen wider. Da Inhalt und Art der Berichterstellung auch über die Veröffentlichung des Berichts hinaus strittig blieben, hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales eine öffentliche Anhörung durchgeführt.
Die Anhörung, bei der zahlreiche Sachverständige aus Verbänden und Forschungsinstituten ihre Stellungnahme zum ARB abgegeben haben, bestätigte die Kritik. Der Bericht der Bundesregierung liefere nur ein Zerrbild der sozialen Wirklichkeit. Das Augenmerk des Berichts lag auf der Frage, wie stark Armut in einzelnen Phasen einer Biographie ausgeprägt ist. Der dahinter stehende methodische Zugang des Lebensphasenmodells, der Armut als individuelles Risiko behandelt, sei ungeeignet, weil strukturelle Armutsgründe wie zum Beispiel Migrationshintergund, Erwerbslosigkeit, Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor oder auch die Betreuung von Kindern nicht systematisch untersucht wurden. Die Lebenslagen ausgewählter Personengruppen, die für eine angemessene Abbildung der Armuts- und Reichtumsverhältnisse in Deutschland erforderlich sind, fehlen im Bericht: Die besondere Armutsgefährdung von Frauen ist ebenso wenig untersucht wie die von MigrantInnen und Arbeitslosen. Der Zusammenhang zwischen der negativen Lohnentwicklung, der Ausweitung des Niedriglohnsektors und dem Anstieg der Armutsrisikoquote ist nur unzureichend abgebildet.
Fast 7 Millionen Menschen können nicht von ihrer Arbeit leben
Neben der Unvollständigkeit des Berichtes wurde auch die mangelhafte Reflexion eindeutiger Fakten kritisiert. Dass inzwischen 20 bis 22 Prozent der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und trotz Arbeit von Armut bedroht beziehungsweise betroffen sind, ist im ARB ebenso wenig problematisiert wie die ungleiche Verteilung der Vermögen. Das Paradoxon, dass dem deutschen Beschäftigungswunder hohe Armutsquoten gegenüber stehen, wird nicht thematisiert. Stattdessen beruft sich der Armuts- und Reichtumsbericht einseitig auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit und schlussfolgert daraus einen gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwachs. Die Fokussierung auf soziale Aufstiegsmobilität und eine rein quantitative Senkung der Arbeitslosenzahlen, die nicht berücksichtigt, dass 6,8 Millionen ArbeitnehmerInnen nicht von ihrer Arbeit leben können, verkennt die Vielschichtigkeit der Ursachen von Armut. Der Armuts- und Reichtumsbericht wird der Vielfalt von Armutsrisiken nicht gerecht.
Sachverständige kritisieren Sichtweise der Koalition
Der einseitigen Sichtweise der Koalition, die im ARB ihren Ausdruck findet, erteilten die Sachverständigen eine deutliche Absage. Eine bloße Senkung der Arbeitslosenzahlen und bildungspolitische Einzelinitiativen sind kurzsichtig. Auf diese Weise kann der Ungleichheit in der Bundesrepublik nicht wirksam begegnet werden. So richtig und wichtig die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Ermöglichung sozialer Mobilität ist, auf viele der bestehenden Problemlagen geben sie keine Antwort. Verdeckte Armut, Altersarmut und die sehr ungleiche Verteilung der Vermögen lassen sich damit nicht beheben. Dafür braucht es ein eigenständiges Armutsprogramm, das Armut in seiner Bandbreite erfasst und bedarfsgerecht bekämpft, wie der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes unterstreicht.
Zentral für die bedarfsgerechte Bekämpfung von Armut ist eine differenzierte Kenntnis der Situation einzelner Personengruppen und der finanziellen Mittel, die ihnen jeweils zur Verfügung stehen. Neben der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns kam auch die Regelsatzhöhe und deren Anhebung zur Sprache. Die Ausweitung atypischer Beschäftigung und die zu geringe Leistungshöhe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II) haben wesentlich zum Anstieg der Armutsquoten beigetragen.
Armut ist ein gesamtgesellschaftliches Problem
Mit dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht ist die Bundesregierung ihrer Berichtspflicht, die der Gesetzgeber 1999 eingeführt hat, nicht nachgekommen. Damit hat sie nicht nur einen sozialpolitischen Rechenschaftsbericht der schwarz-gelben Regierungszeit verweigert, sondern dem gesellschaftlichen Diskurs über Armut und Reichtum und zukünftigen politischen Ansätzen zur Armutsbekämpfung die Grundlage entzogen. Elementare Daten zur Entwicklung von Armut und Reichtum fehlen ebenso wie die Analyse ihrer Ursachen.
Für die zukünftige Armuts- und Reichtumsberichterstattung gibt die Anhörung ein deutliches Signal: Armut ist kein individuelles Schicksal, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem und ihre Bekämpfung eine politische Herausforderung. Eine sachlich-kritische Berichterstattung ist unverzichtbar. Nur wenn Ursachen erkannt werden, können sie auch beseitigt werden. Der Bericht dürfe sich nicht auf eine vergangenheitsbezogene Betrachtung zurückziehen, sondern müsse zwingend eine Zukunftsbetrachtung liefern, so der Sachverständige Dr. Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Dieser Verantwortung ist die Bundesregierung mit ihrem Bericht nicht nachgekommen.
Bereits im Dezember 2012 haben wir in einer Großen Anfrage (BT-Drs. 17/11900) die Lebenslagen ausgewählter Personengruppen abgefragt, die besonders von Armut bedroht oder betroffen sind. Die Antwort der Bundesregierung ist dürftig ausgefallen. Sie ist ausgewichen und hat veraltete Daten geliefert. Auf dieser Haltung haben die Koalitionsfraktionen auch bei den Plenumsdebatten zum vierten Armuts- und Reichtumsbericht (ARB), die im Frühjahr stattgefunden haben, beharrt.
Das Video der Anhörung finden Sie hier: bit.ly/13c96t2
Die Stellungnahmen der Sachverständigen sind hier: http://bit.ly/14zn5Zq abrufbar
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