Anbei meine Kurzbewertung zur Sozial-, Renten- und Behindertenpolitik
Für die prominenten sozialpolitischen Punkte (Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn, Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, eine abschlagsfreie Rente ab 63 Jahren sowie die Besserstellung der Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden) wurde ein hoher Preis gezahlt. Der Mindestlohn kommt flächendeckend erst 2017, davor wird es wie bisher einen Flickenteppich an Regelungen geben.
Die Rentenkasse wird mit mindestens 10 Milliarden Euro jährlich belastet. Da hilft auch der angekündigte Steuerzuschuss im Jahr 2017 von 2 Milliarden Euro nicht wirklich, den rasanten Beitragssatzanstieg ab dem Jahr 2018 abzufedern. Zwar fordern auch wir Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und bei den Rehabilitationsleistungen. Allerdings beschränken wir uns nicht auf eine Anhebung der Zurechnungszeiten von 60 auf 62 Jahre. Auch die Frage der Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente muss thematisiert werden. Zusätzliche Leistungen aber wie die sog. Mütterente (ca. 6,5 Mrd. Euro jährlich) und der abschlagsfreien Rente ab 63 bei 45 Beitragsjahren (inklusive Zeiten der Arbeitslosigkeit) (ca. 3 Mrd. Euro jährlich) müssen zwingend aus Steuern gezahlt werden. Alles andere ist unsolide und hat mit nachhaltiger Sozialpolitik nichts zu tun.
Die im Koalitionsvertrag vereinbarte „solidarische Lebensleistungsrente“ ist keine Antwort auf die Altersarmut. Sie ist mit so hohen Zugangsvoraussetzungen versehen, dass von ihr nur 1% aller Rentnerinnen und Rentner profitieren würde. Hier sind wir mit unserer Garantierente auch programmatisch viel weiter. Sie wirkt zielgenau und sorgt dafür, dass langjährig versicherte eine Rente oberhalb von 850 Euro erhalten. Genau das leistet die „solidarische Lebensleistungsrente“ eben nicht. 850 Euro monatlich sind bei der „solidarischen Lebensleistungsrente“ trotz langjähriger Versicherungspflicht nicht garantiert.
Da die Union vor der Wahl bis auf die Mütterrente sozialpolitisch nichts gefordert hat, lohnt ein Blick ins Wahlprogramm der SPD. Dort findet sich eine ganze Reihe an Themen und Forderungen, die sich im Koalitionsvertrag nicht wiederfinden. Der auch von uns geforderte Soziale Arbeitsmarkt etwa, den die SPD noch vor der Wahl „mittelfristig“ über einen Passiv-Aktiv-Transfer ermöglichen wollte, taucht an keiner Stelle auf. Genauso sieht es bei der Frage des Existenzminimums aus: kein Wort zur eigenständigen Bedarfsermittlung für Kinder. Aber auch die Fortentwicklung des Armuts- und Reichtumsberichts, die Bürgerversicherung, die Einbeziehung Selbständiger in die Rente, die Überprüfungsklausel bei der Rente mit 67, ein stabiler Beitragssatz und ein stabiles Rentenniveau bis 2020, ein einheitliches Rentensystem bis 2020 oder die Aktivierung von Frauen in Bedarfsgemeinschaften fielen der großkoalitionären „Kompromissbildung“ zum Opfer.
Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) kommen überhaupt nicht vor. Das ist umso erstaunlicher, nahmen Forderungen hier in den Vorversionen des Koalitionsvertrages noch eine prominente Stelle ein. Die SPD forderte in der AG Familie unter Manuela Schwesig gar die vollständige Abschaffung des BuT. Die kompletten Leistungen sollten durch Kitas, Schulen und damit beauftragte öffentliche oder freie Träger erbracht werden. Eine wahnwitzige Vorstellung, die heute flächendeckend nicht möglich ist und damit eindeutig gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts verstoßen.
Behindertenpolitisch relevante Themen werden in mehreren Kapiteln behandelt, auf den zweiten Blick bleibt aber alles recht vage. So findet sich das Bekenntnis, Teilhabeleistungen aus dem Fürsorgesystem lösen zu wollen. Ob dies tatsächlich den Verzicht auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen bedeutet, wie wir ihn schon lange fordern, bleibt ungewiss. Auch die im Vertrag versprochene finanzielle Beteiligung an den Kosten der Eingliederungshilfe in Höhe von fünf Mrd. Euro jährlich entpuppt sich als geschicktes Täuschungsmanöver – mit Blick auf den gesamten Finanzrahmen, der für die finanzrelevanten Pläne des Vertrags vorgesehen ist (23 Mrd. Euro), wird deutlich, dass diese Milliarden so bald nicht fließen werden.
Besonders enttäuschend sind die Pläne zum inklusiven Arbeitsmarkt. Das ehrenamtliche Engagement der Schwerbehindertenvertretungen soll anerkannt und gestärkt werden. Das kann alles heißen, oder auch gar nichts. Beim Budget für Arbeit bleiben die künftigen Koalitionäre sogar hinter den Vorschlägen ihrer eigenen Landesregierungen zurück. Die Länder setzen sich für einen dauerhaften Lohnkostenzuschuss als Nachteilsausgleich ein, um Menschen mit Behinderungen den Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Die Großkoalitionäre können sich gerade mal vorstellen, "Erfahrungen mit dem Budget für Arbeit einbeziehen" zu wollen.
Zur Wechselbeziehung zwischen der Eingliederungshilfe und den Leistungen zur Deckung des Pflegebedarfs fehlt jeder Hinweis, das Pflegekapitel lässt starken Widerstand gegen die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in der Pflegeversicherung erwarten. Schnittstellen zwischen den Leistungen zur Teilhabe für Kinder und Jugendliche mit (körperlichen und / oder geistigen) Behinderungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sollen überwundem und Leistungen aus einer Hand gewährt werden. Die „Große Lösung SGB VIII“ wird dabei, anders als im Abschlussbericht der AG Familie, nicht explizit erwähnt, aber auch nicht ausgeschlossen.
Die Barrierefreiheit wird insbesondere in den Bereichen Verkehr (Fernlinienbusse und Bahnhöfe), sowie in Bezug auf Tourismus und das Internet erwähnt. Im Gesundheitskapitel wird die Schaffung spezialisierter Behandlungszentren für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen vorgesehen. Menschen mit Behinderungen (insbesondere Kinder) sollen unter anderem durch eine Verschärfung des Strafrechts besser vor (sexualisierter) Gewalt geschützt werden. Zum Thema Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen findet sich nicht: Weder sind Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung im Zivilrecht vorgesehen, noch werden Begriffe wie Diskriminierung und Gleichbehandlung im Bezug auf das Merkmal Behinderung verwendet. Ob sich in Bezug auf den Wahlrechtsausschluss behinderter Menschen (der im Vertrag genannt wird) tatsächlich etwas tut, bleibt mit Blick auf das Abstimmungsverhalten von Union und SPD in der letzten Wahlperiode zu bezweifeln.
Die Situation behinderter Menschen wird sich langfristig nur verbessern, wenn das Leistungsrecht auch inhaltlich weiterentwickelt wird. In dieser Hinsicht zeugt der Vertrag nicht von Vision und Tatendrang.
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