27.06.2018 – Grüne Politik
während ich diese Zeilen schreibe, empört sich die Mehrheit der Menschen in den USA und Europa über die gewaltsame Trennung von Kindern und Eltern durch die US-amerikanische Grenzpolizei. Ein neuer Tiefpunkt des anti-zivilisatorischen Furors der Trump-Administration ist erreicht – und man muss leider annehmen, dass diesem Akt der demonstrativen Zerstörung von Humanität noch weitere folgen werden. Die Wegnahme von Kindern zählt seit Jahrtausenden zum grausamen Standardrepertoire von Diktatoren, Kolonialmächten und Tyrannen. Schon die Römer nahmen gezielt die Kinder der germanischen Stammeshäuptlinge als Geiseln. Auch wenn es scheint, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika angesichts der übergroßen Ablehnung dieser Abschreckungspolitik in den nächsten Tagen etwas einlenkt, markieren die Bilder dieser Tage ein weiteres Mal die weltpolitische Zäsur, die sich vor unseren Augen abspielt: Der „Westen“ im Sinne einer Staatengemeinschaft mit – wenigstens im Grundsatz – gemeinsamen Werten und der Orientierung an den universellen Menschenrechten, hört auf zu existieren.
Nun mag man (durchaus zu Recht) einwenden, dass seit dem Vietnamkrieg, dem Sturz Allendes, mit der Unterstützung mittelamerikanischer Folterdiktatoren, dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak und vielen weiteren Interventionen es ohnehin nicht weit her gewesen sei mit einer westlichen Wertegemeinschaft. Zweifellos diente die Verteidigung der Menschenrechte in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg mehr als einmal der dürftigen ideologischen Bemäntelung hegemonialer Interessenpolitik. Die Staaten des Westens haben dem Ansehen des Kampfes um universelle Menschenrechte dadurch einen Bärendienst erwiesen und erheblich an moralischer Glaubwürdigkeit verloren, die gerade heutzutage in der Auseinandersetzung mit Autokraten und autoritären Regimen notwendiger denn je wäre. Gleichwohl zählen bis heute die Länder des klassischen „Westens“ zum historischen Kern der Demokratien, deren Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, von der unantastbaren Menschenwürde und vom individuellen „Recht auf das Streben nach Glück“ bis heute Menschen in aller Welt als Ansporn und – ja tatsächlich – als Vorbild dienen. Und die Länder des Westens zählen trotz allem zu denjenigen, die im Innern im Grundsatz die demokratischen Rechte sichern – auch wenn es in immer mehr Staaten unübersehbare Erosionstendenzen gibt.
Vor diesem Hintergrund ist es dramatisch, wenn die bislang mächtigste Demokratie der Erde nach der Schwächung des Völkerrechts und internationaler Abkommen nun auch innerhalb ihrer Staatsgrenzen beginnt, die menschenrechtlichen Grundsätze ihrer Rechtsordnung zu zerstören. Schon Guantanamo und die Folter in den CIA-Geheimgefängnissen nach 9/11 stellten mehr in Frage als die individuellen Menschenrechte der als Terroristen internierten Insassen. Nicht nur der Regierung von Barack Obama war bewusst, dass mit der totalen Negierung der Gültigkeit menschenrechtlicher Prinzipien das ohnehin stets fragile Konstrukt der westlichen Wertegemeinschaft grundsätzlich in Frage gestellt zu werden drohte. Aber ohne ein zumindest im Prinzip geeintes Wertefundament würde sich auch die gemeinsame Interessenvertretung und der damit verbundene Hegemonialanspruch nicht durchsetzen lassen. Die Verschränkung von (überhaupt nicht uneigennütziger) Interessengemeinschaft und Wertegemeinschaft des Westens stellte insofern eine global wirksame machtpolitische Kulisse dar, die für mehrstaatliche Abkommen ebenso Orientierungspunkt war wie für diplomatische oder militärische Interventionen. Weder die Welthandelsorganisation WTO noch das Pariser Klimaschutzabkommen oder das Atomabkommen mit dem Iran sind ohne den machtpolitischen Referenzpunkt „Der Westen“ denkbar.
Was wir gegenwärtig erleben ist die finale Auflösung der über Jahrzehnte dominanten machtpolitischen Struktur. Die USA sind nicht zuletzt ökonomisch nicht mehr in der Lage, ihren Hegemonialanspruch aufrecht zu erhalten. Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz, Staatszerfall und Bad Governance beschleunigen in ihrer Verbindung und Gleichzeitigkeit die so genannten kriege neuen Typs, die dem 30-jährigen Krieg in Deutschland eher ähneln als den Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Syrien lässt sich nahezu exemplarisch beobachten, wie die ökologische Krise (mehrjährige Dürre in Syrien vor Ausbruch des Bürgerkriegs), der Zerfall staatlicher Strukturen (im Irak), Ressourcenkonkurrenz (Öl) und die Implosion der westlichen Hegemonie sowie die darauf folgenden Stellvertreterkämpfe um regionalen Einfluss (Russland, Iran, Saudi-Arabien) zusammenwirken können.
Was ist nun zu tun? Wir, Bündnis 90/Die Grünen in der Bundestagsfraktion halten eine gemeinsame europäische Außenpolitik und einen Erhalt der auf Völkerrecht gegründeten multilateralen Ordnung für die einzige Chance, die gegenwärtige epochale Zeitenwende in der globalen Machtverteilung so unblutig wie möglich zu halten. Jürgen Trittin hat in einem Thesenpapier jüngst bedenkenswerte Punkte formuliert, die auch ich für zentral halte:
Europa ist ein Pol – Deutschland nicht. In einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt kommt es auf das Gewicht an. In der multipolaren Welt kann deutsche Außenpolitik nur europäisch wirken. Dafür muss Europa „weltpolitikfähig werden“ (Juncker). Ein Schritt wäre: Weg vom Einstimmigkeitsprinzip hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Die Europäische Union muss ihre zivilen und zivil-militärischen Fähigkeiten ausbauen.
Europa muss seine Krise überwinden. Die politische Krise ist primär ökonomisch. Deshalb muss es ein Ende der Austerität geben. Die Spaltung in Norden und Süden muss überwunden werden. Europa muss sicherstellen, dass seine Soft Power auch wirklich Power hat. Dies geht nur gemeinsam – nicht mit deutschen Sonderwegen beim Handel, nicht mit 27 China-Politiken.
Herrschaft des Rechts durch multilaterale Ordnung. Den Rahmen für eine neue globale Ordnung können nur die Vereinten Nationen sowie multilaterale Organisationen wie etwa die WTO bieten. Es gibt keinen Weg daran vorbei – auch wenn es unbequem ist, auch wenn der Zustand und die Ergebnisse häufig ungenügend sind. Der Versuch sie umgehen, sich an ihre Stelle zu setzen, hat entscheidend zum Verlust globaler Governance beigetragen.
Eine „wertebasierte Realpolitik“ könnte die Politik der Zerstörung und der Hilflosigkeit eines Donald Trump eindämmen, ohne sich in die Abhängigkeit eines Putin oder Xi Jinping zu bringen.
Ich weiß, dass ich Euch und Ihnen mit diesem Brief aus Berlin harten Stoff zugemutet habe. Aber so sind die Zeiten in der internationalen Politik - und sie werden noch härter. Auch für Deutschland. Trotz allem einen schönen Sommer - wünscht
Ihr und Euer Markus Kurth