17.01.2020 – Wahlkreis
Alle Infos im pdf-Format: 200120 Digitale Lösungen_Cloud Solidaire_Markus Kurth.pdf
Seine Papiere zu verlieren oder zu verlegen, ist für jede und jeden ein kleiner Schock und mit unangenehmer Arbeit verbunden. Wer aber in einer Phase der Obdach- oder Wohnungslosigkeit plötzlich ohne Pass, Ausweis oder Krankenkassenkarte dasteht, für die oder den hat dies dramatische Folgen. Menschen, die ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft stehen, verlieren mit ihren Dokumenten zugleich den Zugang zu grundlegenden Rechten, sozialer Unterstützung und damit auch ein ganzes Stück gesellschaftlicher Teilhabe.
Das will ich ändern. Mithilfe neuer Technologien, vor kurzem geänderter rechtlicher Rahmenbedingungen und nicht zuletzt der Zusammenarbeit der entscheidenden Akteure lässt sich dieses Problem lösen.
Gemeinsam mit der visibleRuhr eG und der Diakonie Dortmund und Lünen gGmbH lade ich deshalb zum 18. Februar 2020 in das Dortmunder Kultur- und Tagungszentrum der Diakonie ein (Haus Wichern). Von 9.00 Uhr bis 17.30 Uhr erarbeiten Vertreterinnen und Vertreter aus Wohnungslosen-Initiativen, digitaler Wirtschaft, sozialen Einrichtungen und kommunaler Verwaltung neue Impulse für digitale Lösungen zur Verbesserung der Lebenssituation von Wohnungslosen.
Wir möchten mit den Akteuren des Barcamps einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen und fragen:
• Wie können Menschen ohne Meldeadresse einen problemlosen Zugang zu behördlichen Vorgängen erlangen?
• Was können wir tun, um Wohnungslosen die notwendige medizinische Versorgung zu ermöglichen?
• Wie gelingt eine Rückkehr in die Gesellschaft mit Selbstwert und ohne Scham?
Am französischen Beispiel Le Cloud Solidaire stellt Vincent Dallongeville, Mitgründer des Start-Ups Reconnect, in seiner Keynote eine digitale Lösung vor, die in Frankreich bereits in mehreren Kommunen eingesetzt wird. Ich agiere als Schirmherr der Veranstaltung und werde auch in den einzelnen Sessions dabei sein.
Weitere Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier: https://www.eventbrite.de/e/entlastung-fur-wohnung...
Erfolgreiche Projekte auf beiden Seiten des Atlantiks, nur bisher nicht in Deutschland
Was in Deutschland nicht zuletzt aufgrund einer lange gültigen und ungünstigen Rechtslage nicht möglich war, ist in Frankreich, Kanada und Großbritannien längst Realität. Menschen ohne Obdach haben über digitalisierte Dokumente jederzeit die Möglichkeit, ihre Identität nachzuweisen, Leistungen zu beantragen oder auch zum Beispiel ohne große Bürokratie eine Ärztin aufzusuchen – selbst wenn ihnen die dafür notwendigen Unterlagen nicht in physischer Form vorliegen.
Ein besonders gelungenes Beispiel ist die „Cloud Solidaire“ des französischen Start-Ups Reconnect, das Möglichkeiten des Internets und Cloud Computings mit einer solidarischen Arbeitsweise verbindet und mittlerweile Kooperationspartnerinnen und -Partner in ganz Frankreich gefunden hat.[1]
Ein deutsches Pilotprojekt im Ruhrgebiet
Ein deutsches Pilotprojekt kann anders als in Frankreich aufgrund der Vielgestaltigkeit der Rahmenbedingungen in Ländern und Kommunen im ersten Schritt kaum deutschlandweit realisiert werden. Eine regionale Beschränkung birgt aber auch Chancen, nämlich eine besonders intensive Vernetzung der Akteure und damit auch eine große Wirksamkeit des Vorhabens. Das Ruhrgebiet bietet sich hierzu geradezu an. Mehr als 6000 Menschen sind aktuell zwischen Duisburg und Dortmund, zwischen Recklinghausen und Hagen ohne Wohnung bzw. sind als obdachlos registriert.[2] Gleichzeitig verfügt der größte urbane Raum Deutschlands über integrierte Infrastrukturen und über Unternehmen, Behörden und Initiativen, die sich in meinen Gesprächen mit ihnen als überaus offen dafür gezeigt haben, ein solches Projekt städte- und landkreisübergreifend zu unterstützen. Es bestehen also Bedarf und die grundlegenden Voraussetzungen, um eine „solidarische Wolke“ auch hier zu verwirklichen. Was bislang fehlte, ist aktives Handeln.
Die nächsten Schritte
Ich möchte als Impulsgeber alle staatlichen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteure des Ruhrgebiets zusammenbringen, die an dem Projekt mitwirken wollen und es so ermöglichen können. Dazu gehören beispielsweise Jobcenter, Sozialämter, Krankenkassen, Träger der Obdachlosenhilfe, VertreterInnen der Freien Wohlfahrtspflege, Social Entrepreneurs, Obdachloseninitiativen, IT-ExpertInnen und nicht zuletzt die Menschen ohne Wohnung oder Obdach selbst.
Mein Ziel ist es, gemeinsam mit ihnen gangbare Wege zu finden, um die organisatorische und die notwendige IT-Infrastruktur zu schaffen, Räume zur Datenerhebung und –verarbeitung bereit zu stellen, die Finanzierung zu gewährleisten, Akzeptanz für eine Digitale-Dokumente-Lösung in der Geschäfts- und der behördlichen Welt herzustellen und natürlich vor allem um um Vertrauen bei den Wohnungs- und Obdachlosen zu werben.
Im Februar findet ein Treffen möglichst vieler dieser Akteure im Rahmen eines BarCamps statt, bei der jede und jeder eingeladen ist, sich im Rahmen seiner Interessen und Unterstützungsmöglichkeiten einzubringen. Wir wollen kollaborativ vorankommen und dabei auf den offenen Dialog und den Ideenaustausch setzen statt auf hierarchische Strukturen. Dementsprechend ist die genaue Ausgestaltung nicht im Voraus festgelegt. Wir entwickeln sie gemeinsam.
Wie soll die Cloud Solidaire Ruhr funktionieren? Erste Thesen
Diesem offenen Prozess möchte ich einige diskutable Thesen zu den Zielen und den Bedingungen des Funktionierens voranstellen:
Rechtliche Hürden bestehen seit 2017 grundsätzlich nicht mehr
Dem Projekt kommt eine kürzlich geänderte Rechtslage entgegen. Bis 2017 war das Scannen von amtlichen Dokumenten (Personalausweis, Reisepass) nicht erlaubt. Mit der Neufassung der entsprechenden Normen des Personalausweisgesetzes und des Passgesetzes wurde die „Ablichtung“ dieser Papiere, das heißt das Kopieren, Fotografieren und Scannen, ausdrücklich gestattet, insofern die Inhaberin oder Inhaber zustimmt und die Ablichtung als Kopie erkennbar ist.
Das Datenschutzrecht steht einer Ablichtung laut einer Analyse der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages grundsätzlich ebenso nicht entgegen.[3] Erforderlich sein wird demnach aber unter anderem eine regelmäßige schriftliche Einwilligung der Pass- oder Ausweisinhaberin in die Datenerhebung bzw. Datenverarbeitung.
Es spricht nach Aussage des Wissenschaftlichen Dienstes „nichts dagegen, dass eine Behörde auch einen Scan [neben einer Kopie] als Identitätsnachweis akzeptiert.“ Vielmehr läge dies im behördlichen Ermessen.[4] Eine Ausnahme gelte lediglich im Fall einer Identitätsfeststellung durch eine sogenannte berechtigte Behörde. Dazu gehörten etwa die Polizei und der Zoll. Ausdrücklich stellt der Wissenschaftliche Dienst fest, dass die Behörden der Leistungsverwaltung in der Regel nicht diesen Behörden zuzuordnen sind.
[1] Siehe: https://www.reconnect.fr/
[2] Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW (2018): Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2017 in Nordrhein-Westfalen: http://www.sozialberichte.nrw.de/sozialberichterstattung_nrw/kurzanalysen/Kurzanalyse-3-2018.pdf
[3] Wissenschaftliche Dienste des Bundestages (2019): Sachstand. Möglichkeit des Identitätsnachweises mittels Ausweis-Scan, WD 3 - 3000 – 041/19.
[4] Ebd., Seite 6.