Neukonzeption des Armuts- und Reichtumsberichts droht Blick auf die Ursachen von Armut zu verschleiern
Anbei die Antwort auf unsere Kleine Anfrage sowie eine Zusammenfassung.
Die Bundesregierung plant mit der Einführung des so genannten Lebensphasen-Modells einen neuen Schwerpunkt in der Berichterstattung. Die Gefahr, dass ein solcher Perspektivwechsel den Blick auf die Ursachen der Armutsentwicklung in Deutschland verstellt, kann die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage (17/9087) nicht entkräften. Bei einer Überbetonung des Lebensphasen-Modells wird Armut vorrangig als individuell beeinflussbar gesehen. Persönliche Einstellungen und Motive sind zwar wichtig. Entscheidender sind und bleiben indes gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die ganze Gesellschaftsgruppen von der Teilhabe ausschließen. Wir werden die Konzeption sowie die Berichtslegung weiterhin kritisch begleiten.
Konkret wird nach Angaben der Bundesregierung die Neukonzeption des 4. Armuts- und Reichtumsberichts eine Gliederung anhand der Lebensphasen (Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter etc.) sowie bezogen auf einzelne Lebensphasen die Benennung entscheidender Übergänge zur Überwindung defizitärer Lebenslagen vorgenommen. Die Durchlässigkeit der Gesellschaft soll ebenso einen Analyseschwerpunkt bilden wie eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Einschätzungen der Bevölkerung und Personengruppen. Der 4. ARB soll zudem eine bessere Verzahnung von Analyse und Maßnahmen beinhalten (Antwort auf Frage 1). Dabei werden Risiko- und Erfolgsfaktoren analysiert, die in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich sind und die Teilhabechancen im späteren Lebensverlauf beeinflussen.
Konzeptionelle Grundlage soll allerdings weiterhin der sogenannte Lebenslagenansatz sein, der neben der Einkommens- und Vermögenssituation die verschiedenen Dimensionen des Lebens (z.B. Erwerbstätigkeit, Bildung und Wohnen) betrachtet. Neu wird jedoch sein, dass die verschiedenen Dimensionen in den jeweiligen Lebensphasen unterschiedlich gewichtet werden (Antwort auf Frage 18). Personengruppen wie Menschen mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund oder Wohnungslose werden fortan nicht mehr gesondert behandelt, sondern nur noch dort behandelt, „wo spezifische Benachteiligungen auftreten“ (Antwort auf Frage 19). Einer solchen Betrachtungsweise sind politisch motivierter Verzerrungen natürlich Tür und Tor geöffnet.
Eine Erweiterung erfährt der Bericht durch die stärkere Berücksichtigung subjektiver Einschätzungen. Hierfür wurden 2.000 Telefoninterviews geführt. Die Erwartungen und Befürchtungen könnten, so die Bundesregierung, „das Verhalten stärker prägen als die objektive messbare Lebenslage“ (Antwort auf Frage 21). Es wird zu beobachten sein, welchem Gewicht die Bundesregierung diesen Ergebnissen beimessen wird.
Nach bisherigem Stand der Planung soll das für den 3. ARB erarbeitete Kernindikatorentableau im aktuellen Bericht mit den verfügbaren Daten fortgeschrieben und textlich erläutert werden (Antwort auf Fragen 2 und 3). Hierbei werden die Ergebnisse der drei amtlichen Statistiken EU-SILC, EVS und Mikrozenus sowie das Sozio-oekonomische Panel verwandt. In welcher Form die jeweiligen Datenquellen im 4. ARB berücksichtigt werden, ist indes noch unklar (Antwort auf Frage 6). Diese Frage ist für die öffentlich Darstellung des Berichts von besonderer Bedeutung. So hatte etwa der damalige Arbeits- und Sozialminister, Olaf Scholz, die für die Bundesregierung „günstigeren“ Daten aus der EU-SILC in den Vordergrund gestellt. Problematisch ist auch die weiterhin mangelhafte Repräsentativität dieser EU-SILC-Daten, insbesondere für sog. Randgruppen, wie Migrantinnen und Migranten. Zwar führt das Statistische Bundesamt hierzu ein Projekt durch, allerdings sind der methodischen Weiterentwicklung enge Grenzen gesetzt (Antwort auf Frage 7).
Ein großes Manko der Berichterstattung bleibt weiterhin, dass die Kosten von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht dargestellt werden. Eine Berücksichtigung in einer „Gesamt-Wirtschaftsbegutachtung“ hält die Bundesregierung nicht für zielführend (Antwort auf Frage 28). Allerdings soll zumindest die Frage der Folgekosten unterbliebener Bildung thematisiert werden.
Nicht zufriedenstellend sind die Antworten zur Messung von Reichtum in Deutschland. Zwar wurden Gutachten hierzu in Auftrag gegeben, inwiefern die Forschungslücken allerdings behoben werden konnten, erschließt sich aus den Antworten nicht wirklich (Antwort auf Fragen 33 und 34). Die Repräsentativität reicher Haushalte ist auf Grund der freiwilligen Haushaltserhebungen jedenfalls nicht gewährleistet (Antwort auf Frage 35). Inwiefern auch Daten der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik einfließen sollen, ist noch Gegenstand von Prüfungen (Antwort auf Frage 36). Um zumindest die Aktualität dieser Statistik zu erhöhen, sollen sie statt bisher nur alle drei Jahre künftig jährlich aufbereitet und veröffentlicht werden (Antwort auf Frage 40). Dies gilt auch für die Körperschafts- und Gewerbesteuerstatistik.
Umfassende Gutachten werden vorgelegt
Die Bundesregierung kündigt in ihrer Antwort an, dass diverse Gutachten zeitnah zur Berichtslegung des 4. ARB veröffentlicht werden. Hierzu gehören die Forschungsvorhaben „Soziale Mobilität, Ursachen für Auf- und Abstiege“ (Antwort auf Frage 12), „Aktualisierung der Berichterstattung über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland“ (Antwort auf Frage 13), „Regelmäßige Berichtslegung und Expertisen im Bereich der Forschung und Praxis der Einkommens- und Vermögensverteilung und der Sozialindikatoren“ (Antwort auf Frage 21, subjektive Einschätzungen), „Vergleichende Analyse der Teilhabechancen in Europa“ (Antwort auf Frage 31, Sachleistungen), und „Möglichkeiten und Grenzen der Reichtumsberichterstattung“ (Antwort auf Frage 34).
Als unbefriedigend ist der Umstand zu betrachten, dass verdeckte Armut bzw. die Nicht-Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen auch im 4. ARB nicht dargestellt werden. An dieser Stelle verweist die Bundesregierung auf das gemäß § 10 Regelbedarfsermittlungsgesetz vorgeschriebene Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse erst zum 1. Juli 2013 vorliegen (Antwort auf Frage 11).
Hintergrund
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 84. Plenarsitzung am 27. Januar 2000 den rot-grünen Entschließungsantrag „Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ (Drucksache 14/999) beschlossen. Die Bundesregierung ist seitdem verpflichtet dem Deutschen Bundestag regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) vorzulegen, der zentrale Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung von Armut ist. Der nunmehr 4. Armuts- und Reichtumsbericht befindet sich derzeit in der Erstellung und wird im Sommer diesen Jahres veröffentlicht.
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