16.12.2020 – Grüne Politik
Das Jahr 2020 wird sicher vielen Bürger*innen als annus horribilis in Erinnerung bleiben. Ein Virus, das man – verfügte es über einen Verstand – als äußerst clever bezeichnen müsste, hat innerhalb eines Jahres die Welt besetzt. Corona wird wie der Schwarze Tod oder die Spanische Grippe in die Weltgeschichte und das kollektive Gedächtnis der Menschen eingehen. Spätere Betrachter*innen der Zeitgeschichte werden sich rückblickend fragen, wieso eigentlich so viele Menschen in den scheinbar doch aufgeklärten Ländern Europas sowie in Nordamerika an Covid-19 erkrankt und in beträchtlicher Zahl gestorben sind – obwohl die besondere Viralität und die überdurchschnittliche Lethalität ziemlich bald nach dem Ausbruch der Pandemie bekannt waren. Auf der Suche nach Antworten werden nicht die Virolog*innen und Politikwissenschaftler*innen alleine zu befragen sein. Vielmehr ist die Antwort in einem Wissenschaftsbereich zu suchen, der für gewöhnlich eher ein Nischendasein fristet: der Risikopsychologie.
Der Mensch ist ein anpassungsfähiges Gewohnheitstier, sonst könnte er nicht überleben. Das heißt: Auch an Angst, die unser Schutzmechanismus zur Risikovermeidung ist, gewöhnen wir uns nach einer gewissen Zeit. Mehr noch: Je weniger das Risiko mit einer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung verbunden ist und je vertrauter das Lebensumfeld, in welches das Risiko eindringt, desto mehr verliert es seinen Schrecken. In der Folge können wir einerseits gelassener mit einer Bedrohung umgehen (was ja durchaus positive Seiten hat), andererseits steigt die Neigung dazu, Vorsichtsmaßnahmen zu vernachlässigen. Die Bebauung von Auen an Flüssen, die Besiedelung von Vulkanhängen oder auch die vernachlässigte Instandhaltung von Brücken sind klassische Beispiele für dieses Phänomen der kognitiven Verarbeitung von Gefahren, für die es im Idiom meiner rheinländischen Geburtsstadt sogar eine eigene Redewendung gibt: „Et hätt noch immer jood jejange!“
Was den Rheinländer zu einem, sagen wir mal, toleranten Umgang mit äußeren Widrigkeiten befähigt, ist im Umgang mit exponentiell wachsenden Risiken erkennbar keine gute Strategie. Mit dem exponentiellen Wachstum kommt noch die entscheidende zweite Besonderheit der menschlichen Risikowahrnehmung hinzu. Intuitiv begreifen wir Menschen – und die meisten Leute auch intellektuell – die Dynamik exponentieller Funktionen nicht. Schüler*innen sollen sie etwa begreifen lernen mit Hilfe der alten Fabel vom genialen chinesischen Schachspieler. Dieser – vom Kaiser höchstpersönlich zu einer Partie herausgefordert – verlangte für den Fall eines Sieges Folgendes: Er legte ein Reiskorn auf ein Schachfeld in der Ecke, nahm zwei Reiskörner für das benachbarte Feld und vier Körner in das daneben liegende Feld. Dann bedeutete er dem Kaiser, dass er so viel Reis bekommen wolle, wie sich ergäbe, wenn man die begonnene Reihe der Verdoppelung der Reiskörner bis zum letzten Feld des Schachbretts fortsetzte. Der Kaiser blickte auf die insgesamt sieben Reiskörner auf den drei Schachfeldern, lachte schallend und vereinbarte leichten Herzens den Preis. Er verlor. Am Ende stellte sich heraus, dass sich durch die weiteren Verdoppelungen eine Menge Reis ergab, welche die gesamten Reisvorräte des Landes überstieg.
In offenen Gesellschaften ist das politische Management von Risiken, die ausnahmslos alle Menschen betreffen, nur dann vorbeugend möglich, wenn eine sehr große Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder die Natur des Risikos und seine Dynamik begreift. Ansonsten droht eine Situation, wo erst die massenhafte und direkte Konfrontation mit den Risikofolgen zu einer Reaktion führt. Dass diese Problematik keine theoretische und zugleich eine hochpolitische darstellt sieht man nicht nur anhand der aktuellen Corona-Pandemie mit ihrer Verlaufsform in explosionsartig wachsenden Schüben. Die Frage des persönlichen, aber auch politischen Risikomanagements steht weitaus drastischer und bedrohlicher in Gestalt der Klimaerhitzung vor der gesamten Menschheit und insbesondere vor den Ländern des globalen Nordens.
Ähnlich wie bei Corona existiert zum Klimawandel eine wissenschaftlich hinreichend sichere Faktenbasis (sogar eine viel bessere). Ähnlich wie bei der Pandemie droht ein exponentielles Wachstum der Klimakrise, wenn durch das Erreichen der so genannten Kipp-Punkte sich klimaerhitzende Effekte gegenseitig verstärken. Schmilzt etwa der arktische Permafrostboden (so wie in diesem Sommer in extrem starker Weise), setzt er enorme Mengen an Methan frei, das 25 Mal so schädlich ist wie CO². Und ähnlich wie bei der Pandemiebekämpfung, als viele Menschen den Ernst der Lage erst begriffen, als mancherorts die Intensivbetten knapp wurden, wurde der Klimaschutz erst in größerer Weise als Existenzaufgabe erkannt, als die Sommer unerträglich heiß, die Bäume frühzeitig braun wurden und Extremwetterereignisse sich häuften. Und letztlich sind sich auch die Konsequenzen sehr ähnlich: Wenn wir nicht zu einer anderen Risikowahrnehmung als bisher finden und mithin auch zu selbstbeschränkenden, durchaus drastischen Reaktionen, werden die Folgen in vielen Fällen tödlich und für noch viel mehr Menschen lebensverkürzend sein. Wie immer bei derart verunsichernden, die eigene Lebensweise in Frage stellenden Herausforderungen, tauchen meist früher als später auch Scharlatane, Quacksalber und Wirrologen aller Art auf – in dieser Hinsicht sind die Ähnlichkeiten unübersehbar. Wer die Klimaerhitzung bestreitet, findet nicht selten, dass Covid-19 nur ein etwas üblerer Schnupfen ist und dass hinter alldem eine Weltverschwörung steckt.
Was heißt das für Politik und speziell Grüne Politik? Gerade im Wahljahr ist die Erklärung von Risiken eine Herausforderung für die politische Kommunikation. Wir müssen den Bürger*innen ernsthaft Sorgen machen, ohne sie in Panik zu versetzen. Alarmismus ist durchaus angesagt – aber einer mit Köpfchen. Aufklärung beginnt auch für Grüne Politik mit der Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie diese selbst die Welt begreifen. Dann besteht eine gewisse Chance, die Risiken besser zu beherrschen und die Paralleluniversen der Verirrten zurück zu drängen!
(Dieser Text ist auch in der Zeitschrift GrinDo der Dortmunder Grünen erschienen.)