25.06.2020 – Arbeit und Soziales, Wahlkreis
Als langjähriger Bundestagsabgeordneter habe ich schon eine ganze Reihe von parlamentarischen Ausnahmesituationen erlebt, von denen ich dachte, sie seien in ihrer Besonderheit nicht zu überbieten – oder zumindest Jahrhundertereignisse. Zig Milliarden Euro schwere Rettungspakete sind in der Finanzkrise 2009 im verkürzten Verfahren in nur einer Sitzungswoche verabschiedet worden. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima führte 2011 innerhalb weniger Wochen zu einem beschleunigten Atomausstieg, nachdem erst ein paar Monate zuvor die Laufzeiten der deutschen AKWs verlängert worden waren. Und 2015 sowie 2016 vollbrachten viele staatliche Institutionen, aber vor allem zigtausende Freiwillige eine gewaltige Kraftanstrengung, um den vor Krieg und Hunger flüchtenden Menschen eine möglichst menschenwürdige Aufnahme und einen Start in eine neue Zukunft zu ermöglichen.
Der Ausnahmezustand ist die neue Normalität
Schon vor der Zeit, die wir jetzt als „Corona-Krise“ bezeichnen, war also der wiederkehrende Ausnahmezustand so etwas wie die neue Normalität. Und mit der Klimakrise, der Digitalisierung und dem demografischen Wandel drehten sich auch schon vor der Coronazeit drei der mächtigsten Schwungräder fundamentaler gesellschaftlicher Umbruchprozesse schneller und schneller. Als sei all dies nicht schon genug, erscheinen selbst in alten Demokratien immer mehr aggressive Paranoiker als so genannte rechtspopulistische Regierungschefs auf der Bildfläche, die ihren Fans die Rettung oder eine großartige Zukunft versprechen. Die Bilder der brennenden Wälder Sibiriens, Australiens und Amazoniens verbinden sich mit denen der Gräberfelder vor den Favelas in Rio de Janeiro und dem Anblick der hassverzerrten Gesichtszüge eines Donald Trumps zu einer dystopischen Vorahnung dessen, was da kommen könnte. Das Besondere der gegenwärtigen Situation der Pandemie besteht jedoch darin, dass sie all diese kaum beherrschbar scheinenden Unsicherheiten sowie Furcht auslösenden Impulse extrem verdichtet – und eine globale Wahrnehmung erzeugt: Seit Corona spüren viele, dass uns – egal was kommt – als Gesellschaft das Schlimmste noch bevor steht. Selbst wer – wie ich selbst – auf die Macht der Aufklärung sowie demokratische Gestaltungskraft vertraut und im Übrigen glaubt, dass es irgendwie immer weitergeht, kommt um eines nicht herum: Die Welt von Gestern ist nicht wiedergewinnbar; wir erleben „The end of the world as we know it.“ So lautete der Titel eines Hits der Popband R.E.M. – allerdings im Jahr 1987 und das mag das Endzeitgefühl, das manche Beobachter*innen der Zeitläufte beschleichen mag, relativieren. Dennoch: Das Reich des Unvorhersagbaren rückt unerbittlich immer näher an unsere Tür.
„Aushalten können“ ist die neue Sicherheit
Diese Erkenntnis erzwingt spätestens jetzt eine Weiterentwicklung der Idee des Sozialstaats und von sozialer Sicherung: Die Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheit, die Bewältigung von biografischen Risikopassagen und die soziale Orientierungsfähigkeit in der Gesellschaft gewinnen für das Individuum und für die Gesellschaft als Ganzes eine völlig neue, geradezu unverzichtbare Bedeutung. Die Förderung von Resilienz muss eine bislang nicht anerkannte Rolle erhalten; sie muss regulärer Bestandteil von sozialstaatlicher Intervention und den Institutionen werden.
Wenn die Zunahme von Unsicherheit und Angst durch die großen Transformationsprozesse (z.B. Digitalisierung) und die jüngste kollektive Erfahrung äußerer, nicht beherrschbarer Gefahr (Corona) dauerhaft das Wesen der Gesellschaft prägen, benötigen wir eine kritische Revision klassischer Sicherheitsversprechen des Staates. Denn wir erleben gerade als Politiker*innen, dass die konventionellen Instrumentenkästen nicht mehr ausreichen oder sogar überholt sind, wenn es darum geht, der um sich greifenden Unsicherheit gesellschaftliche Widerstandskraft entgegen zu setzen. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sind die Soforthilfemaßnahmen von Bund und Ländern vielfach sinnvoll, natürlich müssen die klassischen sozialstaatlichen Instrumente und Regelsysteme der Einkommenssicherung, des Gesundheitsschutzes und der Arbeitsförderung eine unverzichtbare materielle Grundlage bieten. Der Sozialstaat beweist in diesen Tagen, dass er Härten auffangen und in der Krise ein Stück Sicherheit geben kann. Der Staat ist eben doch nicht der „teure Schwächling“, als den ihn der FDP-Chef Lindner noch vor wenigen Jahren zu verunglimpfen suchte. Gleichwohl muss angesichts einer Welt, für die der Ausnahmezustand die neue Normalität wird, jeder Versuch, allein mit Geld die Umbrüche abzufedern, zwangsläufig scheitern.
Resilienz ist die neue Nachhaltigkeit
Resilienzstärkung ist eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, ist sozialstaatliche Einmischung und soziale Arbeit. Denn die Fähigkeit, aus Krisen gestärkt oder wenigstens unbeschädigt herauszufinden, hängt nicht vom Willen der Personen oder Haushalte ab, die sich in tatsächlichen oder zum Teil gefühlten Abhängigkeitssituationen oder Notlagen befinden. Es braucht eine soziale Infrastruktur zur Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe aller sowie zur Befähigung der Selbstermächtigung. Es braucht konkret Orte der Begegnung, Orte der Gemeinschaft, an denen Menschen Unterstützung, Zugehörigkeit und Geborgenheit erfahren. Institutionen, Dienste und Initiativen der sozialen Arbeit, der Weiterbildung sowie der personenbezogenen Unterstützung, die genau das bieten können, sind sowohl zur Krisenbewältigung als auch zur Chancenentwicklung unverzichtbar. Das Gelingen einer demokratischen, gemeinwohlorientierten Politik hängt nicht zuletzt davon ab, dass niemand Krisen und Umbrüche und die mit diesen Prozessen einhergehenden Veränderungen etwa der Arbeitswelt als Bedrohung empfinden muss. Und die Stabilität der gesellschaftlichen Mitte ist tragfähiger, wenn diejenigen am Rande der Gesellschaft, die Verwundbarsten, akut und präventiv gestärkt werden – seien es Wohnungslose, Arme, gesundheitlich Gefährdete, Geflüchtete oder andere. Sozialen Diensten und Einrichtungen, zu denen unter anderem Anbieter von Leistungen der Arbeitsförderung oder von Sprachkursen, Bildungsträger, Versorgungs- und Rehabilitationseinrichtungen gehören, kommt daher eine strategische, systemrelevante Funktion zu, für Demokratie, Zivilgesellschaft und Wirtschaft.
Die Begründung einer regulären Struktur der Resilienzstärkung, nicht als Ergänzung des bisherigen Systems sozialer Sicherung, sondern als qualitativ neue Institutionenbildung, muss eine der sozialen Innovationen dieses immer noch jungen Jahrhunderts der Erschütterungen werden.